Kritik: The National – „High Violet“

07. Mai 2010
4AD/Beggars Group (Indigo)

Wie soll ich ein Album in Worte fassen, das mich schon fast zwei Monate begleitet? Das mir in dieser Zeit in Fleisch und Blut, in Herz und Hirn übergegangen ist? Dessen Songs ich schon jetzt nicht mehr missen möchte, die mir Phantomschmerzen bereiten würden, würden sie fehlen?

Ich habe „High Violet“ seit Anfang März auf Heavy Rotation, da ich in Vorbereitung auf mein Interview schon früh digital bemustert wurde. Natürlich hatte ich vor dem ersten Durchlauf Angst, war danach etwas enttäuscht. Aber in dem Moment, als ich einige Melodiebögen und Textfragmente wiedererkannte und die Refrains mitsummen konnte, da war ich mir sicher: „High Violet“ wird eine ganz große Platte.

Schon kurz danach wusste mein Körper nicht recht, wie er mit den Songs umgehen sollte. Schauer, die mir über den Rücken jagten, wechselten sich mit Gänsehaut ab, und ein ums andere Mal musste ich mitten auf der Strasse gegen die Tränen kämpfen. Das erste Mal passierte mir dies bei „Conversation 16“, welches zwar mit einem etwas ungelenken Aufbau daher kommt und einen nicht eben mitreißenden Refrain besitzt, dafür aber in den Strophen unheimlich dicht, melancholisch und gefühlvoll ist.

Diese Dichte erreichen sie auch in den anderen Songs. Man merkt den neuen Stücken an, das sie bis ins letzte Detail ausgearbeitet wurden, das sie solange geschliffen wurden, bis die Band sicher war, das sie an die Öffentlichkeit dürfen.

Diesmal beschränken sich die Mitmusiker Matt Berningers nicht darauf, dem Bariton des Sängers eine passende Untermalung zu bieten. Die Arrangements sind dichter, vielschichtiger, eleganter und ausgefeilter als noch auf dem Vorgänger „Boxer“.

Aaron Dessner: „Wir haben bei einigen Songs ganz bewußt mit Orchestrierung gearbeitet, um mehr harmonische Tiefe und Komplexität zu erreichen, damit die Musik mit jedem Durchgang weiter wächst und sich ein Stückchen mehr offenbart. Wir haben sie auch benutzt, um mit Klangfarben und Texturen zu spielen. Dieses Album hat eine Menge sich verschiebender Texturen. Wir benutzen solche Instrumente nie nur als Zuckerguss.“

Die von mir vergebenen 10 Punkte beinhalten natürlichen einen dicken Fan-Bonus. Aber auch für Nicht-Fans gilt: hört euch „High Violet“ in Ruhe an. Lasst es reifen. Nehmt euch Zeit. Lasst euch von der Musik gefangennehmen und von Berningers Stimme entführen.

„With my kid on my shoulders I try / Not to hurt anybody I like / But I don’t have the drugs to sort it out“

Genau für solche Momente ist diese Platte gemacht. Bangen und Hoffen, Angst und Mut, Hoffnung und Trauer, Liebe und Enttäuschung, Verzweiflung und Freude. Oder kurz: das Leben.

Highlights: „Conversation 16“, „Bloodbuzz Ohio“, „Anyone’s Ghosts“, „Runaway“

Kommentare

Eine Antwort zu „Kritik: The National – „High Violet““

  1. Avatar von Tom

    Wow, das klingt ja super! Und da du mich ja zu The National gebracht hast, bin ich sehr gespannt 🙂